Auch etwas älter, aber leider nicht sehr weit von der Realität entfernt.
Post mortem
Die Blätter lagen noch in ihrer Hand. Drei Blätter. Drei Seiten der Erklärung. Sie schloss ihre Hand darum und fühlte, wie sich die Ränder bogen, die Seiten einknickten und kleine Risse entstanden. Sie fühlte einzelne Fasern und die scharfen Ränder des Papiers. Wie die Schrift wohl aussehen würde, wenn sie alles wieder glatt strich? Würde ein wenig Farbe abgeblättert sein? Würden manche Buchstaben dadurch unleserlich werden? Oder würde rein gar nichts passieren?
Sie presste fester zu und spürte, wie sich das Papier in Schichten übereinander lagerte. Eine feste Masse aus Holzfasern, Harz und Füllstoffen. Mit ein wenig Tinte darauf. Drei Seiten Papier, mit ein wenig Tinte beschrieben. Es war ein Brief.
Sie wollte ihn nicht noch einmal lesen, aber wegwerfen konnte sie ihn auch nicht. Dafür war er zu wichtig, viel zu wichtig. Es war sein Brief. Er hatte ihn für sie geschrieben, sie würde ihn nicht wegwerfen. Das wusste sie. Sie würde ihn erneut lesen. Und dann wieder, und später noch einmal.
Sie saß im Treppenaufgang eines Hauses. Es war kalt und zugig. Die Tür hinter ihr schloss nicht richtig. Sie saß auf der dritten von fünf Stufen und lehnte ihren Kopf ans Geländer, den Brief noch immer zerknüllt in der Hand. Vor ihr, fast direkt vor der Haustür, stand ein Kinderwagen. Er war dunkelblau, mit weißen Rädern und einem dieser pfefferminzgrünen Baldachine mit Teddybären drauf. Die Bären tanzten. Verschreckte so etwas nicht die Babys? Tanzende Bären genau über ihnen?
Das Geländer war dunkelgrün und an vielen Stellen begann die Farbe bereits abzublättern. Die Wand dahinter war etwa in der Mitte geteilt worden. Die untere Hälfte hatte man lindgrün gestrichen, die obere Hälfte war weiß geblieben. Zumindest musste es vor einigen Jahren einmal weiß gewesen sein, jetzt war es eher beige. Erinnerte ein wenig an eine ausgeblichene Sachsenflagge.
Hinter einer Tür schrie ein Kind. Vielleicht der Besitzer des Teddybären-Kampftrupps?
Sie wollte auch schreien. Bis jetzt hatte sie nur schweigen können. Schweigen und weinen, zu mehr war sie einfach nicht fähig gewesen. Sie zweifelte, ob sie je mehr tun könnte.
Und jetzt saß sie hier, in einem fremden Treppenaufgang und zählte die Teddybären auf einem hässlichen Kinderwagen. Es waren acht. Acht tanzende, ewig fröhliche Teddybären auf einem pfefferminzgrünen Baldachin. Ein achtfacher Kinderschreck auf weißen Rädern.
...
Hinter ihr verstärkt sich der Luftzug, ein Schloss kracht. Im leeren Treppenhaus hallt das Geräusch noch Sekunden lang nach. Ein Schnaufen, Schritte. Ein erstaunter Ausruf.
"Hi", sagt sie leise.
"Was machst du hier?"
Sie hebt die drei Blätter in die Luft. Drei Seiten der Erklärung. Es ist ein Brief.
Sie lässt ihn fallen und beobachtet, wie er anstatt zu segeln steif nach unten fällt.
"Er ist tot."