______________________________________________________________________
17.3.2003 und 9.5.2003
______________________________________________________________________
Der Regen veranstaltete ein Konzert auf dem Asphalt. Ein kleiner Gummiball mit buntem Disneymotiv, der auf einer Pfütze schwamm, wirkte deplaziert, wirkte verloren, wirkte viel zu fröhlich in dieser grauen, eintönigen Welt da draußen. Der Welt, an die zu betreten Juri keinen Gedanken verschwenden wollte. Er hatte Angst vor ihr, sagte er seiner Vermieterin, seinen Freunden und seiner Mutter. Einfache, nackte Angst. Dann pflegte er immer einen Scherz, ein ziemlich rüdes Wortspiel mit dem Begriff ‚nackt’ zu veranstalten, doch in seinen Augen stand das Leid, als wäre es ihm dort eintätowiert worden.
Schöne Augen waren das. Dunkelbraun. Wie Holz, dunkles, warmes Holz, hatte Julia oft gesagt. Julia. Die Frau, bei der sogar Zehennägelschneiden majestätisch ausgesehen hatte. Julia. Die Frau, neben der er nachts aufgewacht war und geweint hatte, einfach vor Glück.
Julia. Glück... Julia...
Er hauchte gegen das kalte Glas des Fensters. Sein Atem kondensierte und ein zitternder Finger malte andächtig wie ein Grundschüler ein J in den beschlagenen Kreis. Vor seinen Augen verschwamm es und wütend zerstörte die erschaffen habende Hand ihr Werk.
Noch immer hatte er das Gefühl, als sei sie ganz nah. Als würde sie hinter ihm stehend beobachten, wie der Himmel seine Schleusen öffnete, als gäbe es kein morgen. Als würde sie flüstern, was sie immer bei Regen geflüstert hatte. Tausend und tausend mal hatte sich Juri die Zeilen vorgesagt, als steckte in ihnen ein Schlüssel, als würden sie ihm helfen aus seinem Loch, seiner ganz persönlichen kleinen Hölle.
„der weg zum licht?
führt er durch die scheibe
hinter der mein ich
im regen steht?“,
murmelte er auch diesmal, ein Automatismus wohl, aufgebaut in all den einsamen Jahren. Ein Teil von ihm wie die kleine Narbe vom Fahrradunfall, als er 3 war, oder die Angewohnheit, Türen mit der linken Hand zu öffnen.
Das Bild, welches Julia hatte vermitteln wollen, war ihm längst klar, dazu brauchte es keinen Philosophen und kein Semester Psychologie. Ein beleuchteter Raum, der durch ein Fenster vom dunklen Regentag draußen getrennt ist, reichte vollkommen.
Juri legte seine Stirn an das angenehm kühle Glas, schloss die Augen und versuchte, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Damals hatte er jeden Winkel, jedes Fältchen, jede Pore gekannt, hatte mit Händen, Lippen, Zunge ihre Züge erforscht.
Gesichter verblassen schnell. Eine Lektion, die er viel zu rasch hatte lernen müssen.
Bilder von ihr tauchten auf. Momentaufnahmen, die er gespeichert hatte. Nachts, nur vom flimmernden Licht des Fernsehers angestrahlt, ein Engel in Blau. Im Bad, über den verschmierten Lippenstift grummelnd. Er hatte damals einfach nicht bis nach der Oper warten wollen.
Dann erschien ihr Gesicht. Einfach ihr ungeschminktes Antlitz, die Haare zurückgebunden, die Augen geöffnet. Ein schelmisches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Er wollte sie berühren, sie küssen, sie wahr ihm so nah.
Juris Lippen berührten das Glas und er zuckte zurück. Mit einem Schlag waren die Bilder weg, es gab nur noch das Zimmer, die Scheibe, den Regen und die Reflektion der dunklen Augen im viel zu blassen Gesicht.
Er starrte sich an, wich einige Schritte zurück, sah, wie er draußen in der Luft zu schweben schien, und hielt inne.
Julias Ich hinter der Scheibe. Sein Ich, von dem er sich sicher war, dass es fest bei ihm saß, bei ihm, an ihm, in ihm, was spielte das schon für eine Rolle. Fest stand, dass ab dem Moment, als die letzte von ihm fallengelassene rote Rose vom Gewirr der Blumen auf dem weißlackierten Holzdeckel aufgefangen wurde, ein teuflisches Spiel mit ihm getrieben wurde. Ein Spiel, in dem ihm nur erlaubt wurde, zu atmen, zu essen, zu trinken und zu leiden. Alles, was ihn ausgemacht hatte, damals, war zu einem kleinen schleimigen Klumpen zusammengefallen, der sich längst im ihn umgebenden, viel zu großen, viel zu leblosen Körper verirrt hatte.
Er starrte seinen Wiederschein im Fenster an, ein Mann, erst 25, blass, abgemagert, unrasiert, der nackte Oberkörper übersät von blauen Flecken und Schürfwunden, die halblangen Haare strähnig. Es war ihm egal, er war sich gleichgültig. Tränen stiegen ihm wieder in die Augen, seine Sicht verschleierte sich und das Spiegelbild zerfloss zu einer weißen Gestalt. Die Haare wurden heller und länger, Brust und Hüfte formten sich, blaue Augen blickten ihn ausdruckslos an.
Julia. Julia in Gestalt eines Geistes, eines umherirrenden Wesens in zerfetzten Kleidern mit wehenden Haaren und einem Schwert in der Hand.
Er wischte sich über sein versteinertes, schweißbedecktes Gesicht, doch die Gestalt verschwand nicht, im Gegenteil, sie wurde immer deutlicher, die pupillenlosen Augen starrten ins Leere, sie begann zu lächeln. Ihre Lippen, Rosenblüten gleich, öffneten sich und entblößten blutverschmierte Zähne.
Juris Hand tastete über den Schreibtisch neben ihm und umklammerte einen Briefbeschwerer, eine Blüte, eingefasst in Glas, hässlich.
Mit einem Schrei, der all die Wut, die Trauer, den Schmerz der vergangenen Zeit aus dem ausgemergelten Körper des Mannes zusammenzufassen versuchte, schleuderte er das Erbstück nach vorne, auf seine geliebte Julia zu, deren Kiefer klirrend in tausend diamantene Splitter zerbarst. Hämisch kichernd, so schien es ihm, trafen sie unten den nassen Asphalt.
Julia war fort, weggewischt wie eine Kreidezeichnung, sie hinterließ ein klaffendes Loch in den Glasscheiben, einen schwer atmenden, am Boden zerstörten Juri und das Gefühl der Leere, der greifbaren, alles beschwerenden Leere und Gleichgültigkeit.
Wie in Trance stand Juri auf. Torkelnd, sich an Möbeln, Türrahmen, Wänden entlangtastend, noch immer mit blankem Oberkörper, machte er den Eindruck eines Betrunkenen, als er die Wohnung verließ und durch den Flur und das Treppenhaus in Richtung Straße stolperte.
Er fiel auf die Knie und starrte in den Himmel, der Regen prasselte auf sein verzerrtes Gesicht und hinterließ Spuren hunderter, nie geweinter Tränen. Die Arme erhoben, Mund und Augen in einem stummen Schrei weit geöffnet , machte er den Eindruck eines Betenden, eines Bekehrten und eines Gefolterten gleichermaßen. Lange verharrte er in dieser Stellung. Dann tasteten seine unsicher zitternden Hände die Umgebung ab, bis sie fanden, was sie suchten.
Glücklich lächelnd setzte er die Scherbe an und führte sie ruhig, bestimmt und fest über seinen Unterarm.
Das Bild, welches sich ihm in Form von sprudelndem, sich mit Regen vermischendem Blut, bot, faszinierte ihn. Es erinnerte ihn an sie, an die Rose, die er auf ihren Sarg geworfen hatte, an ihre Lippen, die so zärtlich, so fordernd, so unschuldig und so schelmisch zu küssen verstanden hatten, an ihr Lieblingskleid und den Wein, den sie mochte.
Sie erfüllte sein Denken, seinen Geist, als er ein allerletztes Mal in ihre Arme schwebte, fest entschlossen, sie nie wieder loszulassen.
______________________________________________________________________
Diesen Text habe ich endlich zu Ende führen können.. Manman, sich selbst in den Hintern zu treten kann manchmal ganz schön schwer sein *schmunzel*