"Frei" (06.05.07)

  • Da bin ich nun. Stehe auf dieser einsamen Brücke, die meterhoch über dem Boden ragt, und denke einfach nur nach, während ich Musik höre. Ich steh’ auf der alten Brüstung, an dem der Zahn der Zeit schon genagt hat. „Rost, überall Rost.“ Sag ich mir leise und schüttle leicht lächelnd den Kopf. Die Brücke ist aus Stein.
    Die Nacht ist kühl und die Luft klar, aber mir ist auf eine ganz angenehme Art und Weise warm. Wahrscheinlich ist das das Laternenlicht, der Smog der Stadt oder einfach nur der Alkohol. Der Himmel ist klar, nur wenige Wolken verdecken ihn, aber die Sterne funkeln trotzdem sehr schön. So richtig schön, also, einfach bezaubernd, denke ich mir.
    Ein Paar geht hinter mir vorbei, der Mann schaut mich an, weil ich die Arme ausbreite und lache.
    Ich bin glücklich, aber er weiß nicht warum.


    Angefangen hat der Tag dabei ganz anders.
    Ich hatte Nachtschicht, die letzte von den drei und als ich nun gegen halb Sieben in der Früh auf meinem Fahrrad saß, mich schwermütig nach Hause, oder besser gesagt in die Pedalen drückte, da schlich ein Gedanke in meinem Kopf. Es war ein simpler Gedanke, kaum der Rede wert und ich denke, ein jeder hatte diesen Gedanken schon einmal, wenn auch nur kurz, kaum bemerkt, so leicht wie eine Feder, so schnell wie ein Gedanke nur so sein kann. Es war eine Erkenntnis, die einem das Leben leicht macht, die einen einfach alles vergessen lässt, was einen sonst nur verzagen lassen würde.
    Dieser Gedanke lautete einfach: „Was für ein schöner Morgen. Ich bin frei.“
    Und gemeint war nicht nur einfach das Wort „frei“, sondern die persönliche Freiheit im Leben die Möglichkeit alles tun oder sein zu lassen.
    Und eben jene Erkenntnis verflog nicht, so wie sie es normalerweise immer tut. Zuhause angekommen zog ich mich aus, legte Brille, Handy, Telefon und Anlagen-Fernbedienung neben mich. Ich kuschelte mich in meine Decke ein, nachdem ich das Fenster zugemacht hatte und den Vorhang davor.
    Dann fiel mir ein, dass ich noch einer Freundin was mitteilen musste. Also nahm ich das Handy, Sieben Uhr in der Früh und schrieb „Du bist ’ne Nase.“
    Ich schlief mit einem angenehmen Gefühl ein.
    Ich war einfach frei, ungebunden, losgelöst von all dem Leid, dem Schmerz und der Trauer, die diese Welt für uns übrig hat, losgelöst von all der Sehnsucht, der Einsamkeit und dem Selbstmitleid, das ich immerzu empfand.


    Ich glaube, ich habe auch geträumt. Davon, dass ich fliege, weit oben, über die Dächer der Stadt, über die Köpfe der Menschen, die von hier oben nur noch so winzig waren wie Ameisen. Und ich bin mir bewusst, dass der Vergleich mit den Ameisen vorhersehbar war, aber das stört mich nicht, nicht mehr.
    In meinem Traum lief sogar wundervolle Musik, es war einfach zauberhaft. Französische Straßenmusik, gepaart mit französischem Folk, Akkordeon, Klavier und Mandoline.
    Ich kann es nicht beschreiben, aber sie war zum sterben schön. Ja, zum sterben schön.


    Gegen vier Uhr stand ich dann auch auf. Zwischendurch war ich öfters mal wach, aber zu faul, um aufzustehen. Warum auch, immerhin war ich frei.
    Ich setzte mich irgendwann auf mein Fahrrad und fuhr einfach los. In Gedanken hörte ich noch die Musik und ich fuhr einfach weg. Wie seltsam muss es ausgesehen haben, als ich mit einem anhaltenden Lächeln auf den Lippen einfach nur Fahrrad fuhr, ohne Ziel, ohne Sinn.
    Einfach nur frei.
    Die Sonne schien, Kinder spielten auf den Wiesen, Eltern und Nicht-Eltern spazierten in der Lauen Abendbrise, umarmten und küssten sich, streichelten und lächelten sich an, Rentner saßen auf Bänken und beobachteten die jüngeren, beobachteten dabei ihre eigene vergangene Jugend und erfreuten sich an dem Leben, das sie einst auch hatten.
    Ich glaubte, sie waren einfach bereit zu gehen, deswegen war auch alles so harmonisch.
    Mein Lächeln wurde breiter und ich breitete meine Arme aus, wenn es ging. In Ordnung, die Leute haben etwas geschaut, aber was sollte schon groß passieren? Ein Sturz, dumme Blicke, anmaßende Worte oder was? Es gab nichts zu befürchten.


    Irgendwann kam ich wieder bei mir Zuhause an. Zuhause.
    Das ist auch so ein schönes Wort. Man ist doch dort zuhause, wo man sich wohl und geborgen fühlt. Ich glaube, nach dieser Definition des Wortes, bin ich überall Daheim.
    Dieses Gefühl war einfach toll. Die Musik rauschte in meinen Ohren, war da, und doch nicht da. Ich war hier, und doch nicht hier.
    Ich glaube allen, die das nicht verstehen können, was ich meine. Ich verstünde es selbst nicht, wenn nicht jene Erkenntnis gewesen wäre.


    Jedenfalls…
    Ich schaute mir dann noch einen Film an, lachte herzlich und empfand Mitleid für die Protagonisten, die eigentlich auch nur Heim wollten, in ihren Himmel.
    Das Telefon klingelte als der Film seinen Abspann abspielte. Ich drückte auf Pause und nahm das Gespräch an.
    Es war die Freundin, der ich am Morgen die SMS geschickt hatte.
    Trotz der Musik, die ich hörte, verstand ich sie und sagte zu, mich mit ihr noch zu treffen. Halb Elf in der Nacht war das machbar.


    Ich setzte mich auf mein Fahrrad, nachdem ich mich einer Dusche unterzogen hatte, ließ mich von meiner Traum-Musik begleiten, die jetzt immer mehr an Schönheit gewann. Es war zum sterben schön.
    Ich schloss mein Fahrrad an und lief den Rest.


    Auf dem Weg dorthin kam sie mir mit einer gemeinsamen Freundin entgegen. Sie reichten mir eine Sektflasche und nie hat ein Schluck Sekt so gut geschmeckt, wie zu diesem Zeitpunkt.
    Das musste das Gefühl sein, wenn alles, einfach alles anders ist. Wir unterhielten uns und sie wollten nicht so recht glauben, dass es mir gut ging.
    Jemanden von meiner Erkenntnis auf direktem Wege zu erzählen würde nichts bringen, sie konnten die Musik eh nicht hören, den Zauber, der von ihr ausging.
    Sie alle waren nicht frei, waren gebunden an all jenes, von dem ich nun gelöst war.


    Zum Abschied bekam ich zwei Küsschen auf die Wangen, dann ging ich mit der anderen Freundin zur Haltestelle. Wir unterhielten uns noch etwas, bis ihre Straßenbahn kam, und sie heim tragen würde.
    Es war inzwischen dunkel und kühl geworden. Ich sagte nichts von der Musik und der Schönheit, die ich empfand, egal was ich auch erblickte.
    Sie hätte es mir nicht geglaubt, meinte nur, und das las ich in ihren Augen, dass ich vorsichtig sein sollte, was die Gefühle für die andere Freundin anging.


    Ich lächelte, versicherte ihr, dass es nichts dergleichen war.


    Ich war einfach nur frei. Das war alles.


    Ich zündete mir eine Zigarette an, als die Bahn hinter der nächsten Kurve verschwand und schaute in den fast klaren Himmel. Langsam ging ich Richtung Wohnung, schob mein Fahrrad neben mir her und ab und zu blies ich den blauen Dunst in den Nachthimmel, den Sternen entgegen.


    Nie war die Musik so klar wie zu diesem Zeitpunkt, nie die Luft so klar.
    Ich stellte also mein Fahrrad an die steinerne Brüstung und stieg auf sie.


    Ich weiß nicht, für wie lang ich dort stand.
    Aber da bin ich nun, stehe auf dem Brückenrand, breite die Arme aus und lache laut.
    Der Mann hinter mir weiß nicht, warum ich vor Glück lache. Aber er kann weder die Musik hören, noch nachvollziehen, welche Erkenntnis ich an diesem Morgen hatte.


    Der Wind umstreift mich sanft, drückt mich von der Brüstung und selbst der freie Fall ist schön. Ich bin frei und während der Boden immer schneller auf mich zurast schließe ich meine Augen und lächle nur noch.


    Und spüre den Aufprall nicht.

  • Da wirft man nach langer Zeit, mal wieder ganz beiläufig nen Blick hier rein und was sieht man? Eine Geschichte von Naowri! :achdufresse:
    Und auch noch gestern erst veröffentlich :winking_face_with_tongue: Da bin ich ja genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen :D


    Zur Geschichte:


    Ist wirklich sehr schön gelungen :smiling_face:
    Die letzten Gedanken von jemandem der von seinem Leben genug hat und der glücklich ist, da ihm die Erkenntnis gekommen ist, dass er ganz frei entscheiden kann, ob er seinem Leben ein Ende setzen und sich so von der Qual seines Lebens befreien soll.
    Liest sich sehr schön und melancholisch, es erstaunt mich immer wieder wie gut du es verstehst, deine Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt der von dir erschaffenen Protagonist/innen zu versetzen :smiling_face:

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